Auswertung der Daten
Aufbereitung der Daten
Für die Rekonstruktion von Klimaverläufen benötigt die Historische Klimaforschung kontinuierliche, lange und möglichst homogene Zeitreihen, die Informationen enthalten, die in quantitative Angaben umgerechnet werden können. Die historische Klimafolgenforschung wiederum braucht hoch aufgelöste Temperaturdaten sowie genaue Angaben zu den Niederschlagsverhältnissen, weil beide für gesellschaftliche Aktivitäten bedeutsam sind.
Biophysische Proxydaten erlauben es, die Temperaturen für Perioden von mehreren Monaten abzuschätzen. Diesen mehrmonatigen Schätzperioden können jedoch recht unterschiedliche monatliche Temperatur- und Niederschlagsmuster zugrunde liegen. So kann z.B. eine frühe Roggenernte entweder auf einen extrem warmen Maimonat und einen normalen Junimonat folgen oder auf einen eher kühlen Maimonat und einen sehr warmen Junimonat oder gar auf einen extrem warmen April, einen normalen Mai und einen nur überdurchschnittlich temperierten Juni. Witterungsbeschreibungen in Chroniken und Wettertagebüchern ermöglichen es, die Bedingungen in einzelnen Monaten zu rekonstruieren. Sie sind aber je nach Autor sehr unterschiedlich und daher nur schwer klassifizierbar.
Den Spagat zwischen Klimarekonstruktion und Klimafolgenforschung ermöglichen monatliche oder jahreszeitliche Temperatur- und Niederschlagsindizes, die Indizes werden aus dem gesamten für einen Zeitraum verfügbaren historischen Datenmaterial hergeleitet. Die Nachrichten werden zu diesem Zweck chronologisch sortiert und dann für jeden Monat/jede Jahreszeit aufgrund einer vergleichenden Bewertung des gesamten Materials interpretiert: Jedem Monat bzw. jeder Jahreszeit wird anhand dieses Vergleichs ein Temperatur- und ein Niederschlags-Index zugeordnet. Die so genannten Pfister-Indizes (Mauelshagen 2010) gliedern sich in sieben Klassen.
a) Temperatur
- -3: extrem kalt
- -2: sehr kalt
- -1: kalt
- 0: ohne offensichtliche positive oder negative Tendenz
- +1: warm
- +2: sehr warm
- +3: extrem warm
b) Niederschlag
- -3: extrem trocken
- -2: sehr trocken
- -1: trocken
- 0: ohne offensichtliche positive oder negative Tendenz
- +1: feucht
- +2: sehr feucht
- +3: extrem feucht
Wichtig ist zu betonen, dass diese Pfister-Indizes Informationen über die Reihung (Rangordnung) eines Merkmals enthalten, nicht aber über dessen Grössenordnung. Es können ihnen auch keine Einheiten (z.B. bestimmte Temperaturen oder Niederschlagsmengen) zugeordnet werden.
Beispiel: Ein Monat mit dem Temperaturindex -3 ist kälter als ein solcher mit Temperaturindex -2, ohne dass über die Grössenordnung des Unterschieds eine Aussage gemacht werden kann. Für solche Vergleiche braucht es stets eine Basis. Für die Pfister-Indizes in Euro-Climhist bildet diese Vergleichsbasis die Periode 1901-1960, da dieselbe nach der „Kleinen Eiszeit“ und vor der Periode der raschen globalen Erwärmung ab den 1980er-Jahren anzusiedeln ist. Ein Monat mit dem Temperaturindex -3 ist somit nach den Statistiken der Vergleichsperiode 1901-1960 als sehr kalt einzustufen. Temperaturindizes der Stufen 3-, -2, 2 und 3 müssen sich zudem auf Proxydaten stützen, die statistisch abgesichert sind.
Indizes für Jahreszeiten ergeben sich aus dem Durchschnitt der monatlichen Indices. Beispiel: Aus monatlichen Indices von -1, -1 und -3 kann ein jahreszeitlicher Index von -1.6 hergeleitet werden.
Zudem stehen Forschende vor der Aufgabe, dass für jeden klimatischen Raum jeweils individuelle Kriterien ausschlaggebend sind, um eine Klassifizierung nach den Pfister-Indizes vorzunehmen. So deutet eine Nachricht, dass ein See im Winter 30 Tage lang zugefroren gewesen sei, für das Schweizer Mittelland auf einen extrem kalten Winter (Temperaturindex -3) hin, doch für Nordschweden würde dieser Befund normaler sein und somit eine Bewertung mit einem Temperaturindex von 0 oder -1 ergeben.
Die Herleitung von Temperatur- und Niederschlagsindizes aus historischen Dokumentendaten folgt einer in den letzten Jahren immer mehr verfeinerten Methodik, um mit einer Vielfalt von individuellen Quellen umzugehen, deren örtliche und zeitliche Informationen unterschiedlich genau sind. Die meisten dieser Quellen enthalten keine quantitativen Angaben zur Witterung; sie sind formal und inhaltlich nicht normiert und tendenziell lückenhaft. Dennoch lässt sich ein Teil der individuellen Beobachtungen quantifizieren. Namentlich gilt dies für tägliche Wetterbeobachtungen, die sich monatsweise auszählen lassen. Zudem stützen sich Schilderungen von Extremtemperaturen häufig auf quasi-objektive, überzeitlich vergleichbare Beobachtungen, beispielsweise Hinweise auf den – verfrühten oder verspäteten – Stand der Vegetation, die Dauer oder das Fehlen einer Schneebedeckung, das Überfrieren von Gewässern oder das Erscheinen von Frühlingsvegetation im Winter. Schilderungen von Hoch- oder Niedrigwasser können als Beleg für extreme Niederschläge oder lange Trockenperioden herangezogen werden.
Klimasensitive Daten sind ferner in der Buchhaltung von Institutionen greifbar. So ist in manchen Archivbeständen der Zeitpunkt der Getreideernte oder der Weinlese Jahr für Jahr verzeichnet, und zwar oft über Jahrhunderte hinweg. Aus entsprechenden Zeitreihen lassen sich mit statistischen Methoden Temperaturen für mehrmonatige Zeiträume schätzen, gleich wie dies bei Daten aus Archiven der Natur, beispielsweise Baumringen, der Fall ist.
Um Temperatur- und Niederschlagsindizes zu schätzen, müssen sämtliche für einen Monat oder eine Jahreszeit verfügbaren Daten miteinbezogen werden. Sie sollten sich gegenseitig stützen und eine plausible meteorologische Tendenz aufweisen. Mit der Zunahme des Schweizer Datenmaterials von 1550 an kann nahezu jedem Monat ein Temperatur- und ein Niederschlagsindex zugeordnet werden.
Ein gutes Beispiel für die Herleitung von monatlichen Temperatur- und Niederschlagsindizes bietet die Witterung des Monats April 1731 in der Schweiz:
Euro-Climhist: Abfrage-Ergebnis für April 1731 (ohne Witterungsschäden)
1731-April 1-10 / Schneeschmelze: vollständig / Kt. Nidwalden
1731-April 11-20 / dauernde Schneebedeckung / Kt. Appenzell-Innerrhoden
1731-April 21-25 / kalt / Kt. Nidwalden
1731-April 21-30 / grosse Schneemassen / Winterthur (ZH)
1731-April / dauernde Schneebedeckung: einige Tage / Kt. Nidwalden
1731-April / kalt / Kt. Genf
1731-April / Ostwind / Bätterkinden (BE)
1731-April 30 / extrem lange Schneebedeckung / Winterthur (ZH)
1731-Mai 7 / Kirschbäume blühen 127 Tage nach Neujahr, extrem spät / Mittelland
1731-April / Pfister Temperaturindex: -3 extrem kalt / Mittelland
1731-April / Niederschlagssumme 102 (mm): nass / Zürich (ZH)
1731-April / 11 Tage mit Niederschlag: eher trocken / Winterthur (ZH)
1731-April / Pfister Niederschlagsindex: 0 durchschnittlich / Mittelland
In seiner Gesamtheit entspricht dieses Datenfeld einem extrem kalten April. Dies kann aus mehreren Indikatoren hergeleitet werden: einer extrem langen Schneebedeckung in Winterthur und in Nidwalden (Stans), der vorherrschenden sehr kalten Bisenlage (Nordostwind) sowie der extremen Verspätung der Kirschenblüte im Mittelland. Diese ist hauptsächlich von den Apriltemperaturen abhängig (Rutishauser, Studer 2007).
Ein Autor:innenteam um den tschechischen Klimaforscher Petr Dobrovolný (Dobrovolný et al. 2010) hat aus den für Deutschland, die Tschechische Republik und die Schweiz ab 1501 vorliegenden Temperaturindizes und den ab dem 18. Jahrhundert anschliessenden Instrumentendaten die monatlichen Temperaturen seit 1501 geschätzt. Diese Daten sind auf der Basis von Monats-, Saison- und Jahresmittelwerten in Euro-Climhist für die Zeit ab 1500 verfügbar. Wesentlich ist dabei auch, dass die Grösse des potenziellen Schätzfehlers angegeben werden kann.
Interpretation
Gesellschaften sind besonders sensibel für extreme Witterungsverhältnisse und ihre Folgen. Solche wollten und wollen stets gedeutet werden. Heute werden sie oft unreflektiert der vom Menschen gemachten Klimaveränderung zugeschrieben. Andererseits werden sie nicht selten herangezogen, um den menschengemachten Klimawandel mit der Begründung zu leugnen oder zu verharmlosen, dass es solche Extreme „schon immer“ gegeben habe. Doch mit der langfristigen Klimaentwicklung haben Einzelereignisse generell wenig zu tun, weil sie sich statistisch nicht untersuchen lassen. Ein sibirischer Winter macht noch keine Eiszeit, und selbst der Hitzesommer von 2003 wurde von der einzigartigen elfmonatigen Hitze und Dürre im Jahr 1540 noch übertroffen (Wetter et al. 2014). Allerdings blieb das Jahr 1540 ein singuläres Jahrhundertereignis, wohingegen die meisten Sommer seit 2003 im Vergleich zur Referenzperiode 1901-1960 als extrem heiss (+3) oder sehr heiss (+2) eingestuft werden müssen.
Die Witterungs- und Klimageschichte hört mit der Errichtung des Messnetzes der heutigen MeteoSchweiz im Jahr 1864 nicht auf. Umgekehrt ergeben sich Fragen an die Witterungs- und Klimageschichte häufig aus dem aktuellen Wettergeschehen. Deshalb werden in Euro-Climhist ausgewählte lange Reihen von Instrumentendaten und Proxydaten nach Möglichkeit bis zur Gegenwart fortgeführt.
Für eine klimageschichtliche Interpretation werden die Ergebnisse einerseits in Form von Zeitreihen dargestellt, andererseits können sie mit weiteren langen Reihen auf der Basis von Daten aus Archiven der Natur, vorzugsweise Baumringen und den bekannten Rekonstruktionen der Alpengletscher, abgeglichen werden.
Bei der Interpretation gewisser Proxydaten ist allerdings Vorsicht geboten. Seit 1808 wird beispielswiese jährlich der Blattaustrieb eines Rosskastanienbaums im Stadtzentrum von Genf registriert. Dabei zeigt sich seit dem späten 19. Jahrhundert ein starker Trend zu einem früheren Blattaustrieb bzw. einer früheren Blüte. Dieser ist jedoch überwiegend der extremen Erwärmung durch die Stadtentwicklung zuzuschreiben, wie der Vergleich des Blattaustriebs in Genf mit der ersten Blüte der Rosskastanie im ländlichen Hallau (SH) verdeutlicht (Wetter, Pfister 2014).